Vers 1.9 Ujjvala-nīlamaṇi - Vāvadūka - 5 Beispiele
Kṛṣṇas Eigenschaften
6) Vāvadūka वावदूकः – "Beredt und lieblich sprechend"
Als Vāvadūka bezeichnen die Weisen denjenigen,
dessen Rede entweder überaus angenehm für das Ohr ist (śruti-preṣṭha
– श्रुतिप्रेष्ठ),
oder dessen Worte mit allen Vorzügen vollkommener Sprache (vāg-guṇa –
वाग्गुण) ausgestattet sind.
So hat das vāvadūkatva (die Eigenschaft der Beredsamkeit) zwei Dimensionen:
- Eine Rede, die äußerst süß und erfreulich zu hören ist, und
- Eine Rede, die alle sprachlichen Qualitäten in höchstem Maß besitzt.
Erstes Beispiel (Ujjvala-nīlamaṇi 2.1.72–73):
aśliṣṭa-komala-padāvali-mañjulena
pratyakṣa-rakṣa-rada-manda-sudhā-rasena |
sakhyaḥ samasta-jana-karṇa-rasāyanena
nāhāri kasya hṛdayaṁ hari-bhāṣitena ||
Mit Worten, die sanft, zart und wunderschön gefügt sind,
die wie sichtbarer Nektar zwischen seinen leuchtenden Zähnen fließen –
ist Kṛṣṇas Rede wie ein wohltuender Trank für jedes Ohr.
O Freundinnen! Wessen Herz würde da nicht von Haris Worten geraubt werden?
Dieser Vers preist Kṛṣṇas göttliche Beredsamkeit:
- Seine Sprache ist zart und kunstvoll in der Formulierung (aśliṣṭa-komala-padāvali-mañjulam – अश्लिष्ट कोमलपदावलि मञ्जुलम्),
- Sie ist wie süßer, heilender Nektar, der sanft aus seinem strahlenden Mund fließt (sudhā-rasena – सुधारसेन),
- Sie wirkt wie ein Elixier für die Ohren aller Zuhörer (karṇa-rasāyanam – कर्णरसायनम्),
- Und sie raubt jedem das Herz, der sie hört (kasya hṛdayaṁ nā hāri – कस्यहृदयंनाहारि).
In sanften Silben, weich verwoben,
fließt Honig durch sein Lächeln lobend.
Ein Balsam ist sein jedes Wort,
das Herzen hebt und Schmerz hinfort.
O Freundin, sag: Wer bleibt verschont,
wenn Haris Rede süß entthront?
Ein Blick, ein Wort – und du bist sein –
so stark kann zarte Sprache sein.
Zweites Beispiel aus Vidagdha Mādhava 4.20:
ekaṁ prayāti paricarya cakora-rājī
candraṁ priye nija-manoratha-pūra-pūrtim |
candrāvalī kim u mamākṣi-cakorayos tvaṁ
prītiṁ dvayor api na dhāsyati sevyamānā ||
O Geliebte (priye), die Reihe der Cakora-Vögel geht, um dem Mond zu dienen –
denn in ihm sehen sie die Erfüllung ihrer innersten Sehnsucht.
O Candrāvalī, wenn du wie dieser Mond bist – wirst du dann nicht beiden –
mir und meinen cakora-gleichen
Augen – Liebe schenken, wenn wir dich dienen?
In vedischer Poetik gelten Cakora-Vögel als würden sie sich nur vom Mondlicht ernähren.
- Kṛṣṇa vergleicht Candrāvalī mit dem Mond – schön, leuchtend, begehrenswert.
- Er selbst und seine Augen sehnen sich nach ihr wie Cakoras nach dem Mond.
- In typischer vāvadūka-Manier (lieblich und doppeldeutig), bittet er sie charmant, beiden – ihm und seinen Blicken – ihre Liebe zu schenken.
- Die Sprache ist zart, bildhaft, kunstvoll, und enthält eine subtile Mischung aus Werbung, Lyrik und tiefer Emotion.
Drittes Beispiel aus Vidagdha Mādhava 7.11:
labdhaṁ mām avalokya tanvi purato romālir abhyudgatā
netre padya-vidhiṁ kṣaraj-jala-bharaiḥ prītyārpayāñ cakratuḥ |
vakṣaś ca skhalad-uttarīyam adiśad divyāsanaṁ sambhramād
vāmāyās tava dakṣiṇaḥ parikaro diṣṭyādya vṛtto mayi ||
O Schlanke (tanvi), als du mich vor dir erscheinen sahst,
stieg an deinem Körper eine Reihe von Gänsehautschauern (romālī)
empor.
Deine tränenüberströmten Augen
verrichteten aus Liebe eine Art zeremonielles Wasseropfer (padya-vidhi).
Dein Brustbereich, enthüllt durch das herabgerutschte Obergewand,
wies mir aus Verwirrung das göttliche Sitzkissen (divyāsana) zu.
Und — o Schöne — durch glückliche Fügung
ist nun der rechte Schmuck deiner linken Körperseite mir zugewandt!
Dieser Vers ist eine feinfühlige, spielerisch-erotische Beschreibung von Rādhā's emotionaler Reaktion auf Kṛṣṇas Ankunft, aus seiner Perspektive gesprochen:
- Die Gänsehaut (romālī) zeigt ihre spontane, körperliche Erregung.
- Die Tränen in ihren Augen werden als eine Liebes-Pūjā interpretiert — eine rituelle Waschung wie beim Empfang eines verehrten Gastes.
- Ihr herabgerutschtes Gewand gibt ihr Dekolleté frei, das Kṛṣṇa neckisch als "Sitzplatz für die Gottheit" (ihn selbst!) interpretiert.
- Der letzte Vers ist ein subtiler erotischer Witz: ein Schmuckstück (z. B. eine Hüftkette oder ein Armreif) auf der linken Seite hat sich durch "Fügung" Kṛṣṇa zugewendet — symbolisch für ihre Hingabe.
Diese zart-doppeldeutige Sprache ist typisch für vāvadūka-Kṛṣṇa:
voller Gefühl, Witz, und Liebesintelligenz – ein Spiel mit
Emotion und Anspielung.
Du sahst mich — und dein Leib erzitterte leise,
ein Strom von Schauern, eine fühlende Reise.
Aus deinen Augen flossen Tränen wie Gaben,
als wolltest du mit Liebe mich waschen und laben.
Dein Schleier fiel — in zarter Hast,
dein Herz bot mir die göttliche Rast.
Und, o Glück: der rechte Schmuck zur Linken dir
hat sich, wie du, nun gewendet zu mir.
Dieser Vers vereint alle Merkmale des höchsten vāvadūkatva:
- Empathie (Erkennen der Emotion des Anderen),
- Lyrik (sprachliche Schönheit),
- Sinnlichkeit ohne Obszönität,
- und ein feines Spiel mit rituellen Bildern und Körperlichkeit.
Kṛṣṇa wird hier nicht nur als Sprecher, sondern als empathischer Kenner der Seele und des Körpers seiner Geliebten gezeigt — das Ideal des nāyaka (liebenden Helden) in der Sanskrit-Poesie.
Viertes Beispiel aus Alaṅkāra-Kaustubha (8.5):
tava navaka-śirīṣa-tulyam aṅgaṁ
kamala-samaṁ mukha-maṇḍalaṁ rādhe |
vacanam api sudhā-samānam
etat katham aśani-pratimaṁ mano babhūva || [a.kau. 8.5]
O Rādhā, Dein Körper ist so zart wie eine frische Śirīṣa-Blüte,
dein Gesicht gleicht einer Lotusblume,
und deine Worte sind süß wie Nektar.
Wie nur konnten diese selbe Worte
mir wie ein Donnerschlag ins Herz fahren?
Kṛṣṇa ist emotional tief getroffen.
- Obwohl Rādhā nach außen voller Anmut, Zartheit und Süße
erscheint,
hat etwas, das sie gesagt hat, ihn innerlich erschüttert – wie ein aśani, ein Blitz oder Donnerkeil. - Dies ist ein klassisches Motiv im śṛṅgāra-rasa: die Spannung zwischen äußeren Reizen und innerer Wunde.
- Auch hier zeigt sich Kṛṣṇas vāvadūkatva:
Sein Schmerz wird zart, bildhaft und edel ausgedrückt, ohne Vorwurf – nur Verwunderung und Gefühl.
Du bist aus Blüten, weich und rein,
Dein Blick so still, dein Wort so fein.
Ein Lotus schmückt dein zartes Licht,
aus deinem Mund fließt Süßgedicht.
Wie kann dann solch ein Wort, so zart,
mir brechen still das Liebes-Herz?
Was war darin, das wie ein Pfeil,
durch sanfte Töne doch mich teil'…
Dieser Vers ist ein subtiler Beweis für wahre Eloquenz (vāvadūkatva):
- Formvollendet, in Wortwahl und Bildlichkeit.
- Gefühlvoll, aber nicht dramatisch oder anklagend.
- Zärtlich, selbst im Schmerz.
Er zeigt, dass echte Eloquenz nicht nur in Schönreden, sondern auch im schönen Leiden liegt — in der Kunst, Schmerz mit Würde und Liebe auszudrücken.
Fünftes Beispiel aus Kaustubha-Alaṅkāra 10.1:
śirīṣa-puṣpād api komalāni rādhe
tavāṅgāni kuraṅga-netre |
stana-dvayaṁ te hṛdayasya śiṣyaṁ
kāṭhinyam uccair yad idaṁ bibharti ||
O Rādhā, Rehaugen-Schöne,
deine Glieder sind weicher noch als die Blüte des Śirīṣa-Baums
(Albizia).
Doch dein Brustpaar trägt unübersehbar die Härte,
die es als Schüler deines Herzens gelernt hat.
Dieser Vers ist ein subtiles Meisterstück emotionaler und sprachlicher Doppeldeutigkeit:
- Kṛṣṇa beginnt mit einem Lob: Rādhās Körper ist zart, sanft, lieblich – weicher als die zarteste Blüte.
- Doch dann wendet er das Kompliment in ein bittersüßes Spiel:
- Ihre Brüste sind nicht (nur) schön, sie sind hart – ein Kontrast zur körperlichen Weichheit.
- Diese "Härte" sei gelernt – vom Herzen!
Das bedeutet: Ihr Herz ist kalt, verschlossen, unzugänglich, und diese innere Kälte habe sich sogar physisch manifestiert. - Daraus spricht Verletztheit, Sehnsucht und auch neckische Anklage.
- Es ist ein emotionales Paradox: Die äußerlich Sanfte ist innerlich hart – eine bittere Wahrheit in süßer Sprache gesagt.
Weicher als Blüten aus Śirīṣas Traum,
so zart dein Leib, als wär er kaum.
Und doch – zwei Hügel voller Macht,
die zeigen, was dein Herz entfacht.
Denn Härte, streng und ungebeugt,
hat aus dem Innern sich gezeugt.
Was deine Brust heut offenbart,
ist Liebeslernen – kalt und hart.
Dieser Vers veranschaulicht Kṛṣṇa's Vāvadūkatva — Seine Fähigkeit mit:
- Wortgewandtheit (poetische Metapher und Anspielung),
- Emotionale Tiefe (Sanftheit + Schmerz in einem Atemzug),
- Doppelbödigkeit (körperlich vs. seelisch),
- und Liebesspiel (Verletzung nicht als Vorwurf, sondern als bittersüße Klage).
zu sprechen.
Es ist süßer Schmerz in schönster Sprache – das wahre Kennzeichen des Vāvadūka.

